Zum Problem des dialektischen Materialismus (Diamat)

Dialektik gibt es eigentlich nicht als abstrakte Methode unabhängig von der Darstellung, sondern nur als materiale Darstellung, zum Beispiel der kapitalistischen Produktionsweise des 19. Jahrhunderts im marxschen Kapital oder der Kultur des „Hochkapitalismus“ in Benjamins Passagen-Werk. So schreibt Marx im sogenannten Methodenkapitel[1]:

„Eine allgemeine Einleitung, die ich hingeworfen hatte, unterdrücke ich, weil mir bei näherem Nachdenken jede Vorwegnahme erst zu beweisender Resultate störend scheint, und der Leser, der mir überhaupt folgen will, sich entschließen muss, von dem einzelnen zum allgemeinen aufzusteigen.“[2]

Dennoch wird die Dialektik heute meist ohne Bezug auf solche Darstellungen diskutiert. Das gilt für die Neue Marx-Lektüre (bspw. Hans-Georg Backhaus, Michael Heinrich) ebenso wie für den von Friedrich Engels ausgehenden dialektischen Materialismus, auch wenn beide sich scharf voneinander abgrenzen. Zwar versichert der dialektische Materialismus, dass die Dialektik ihren Zweck außer sich in der Darstellung hat. Tatsächlich erhalten aber aus Sicht des dialektischen Materialismus solche Darstellungen ihre Wahrheit erst durch die Dialektik, die unabhängig von der Darstellung wahr sein soll.

Engels versteht unter Dialektik ein metaphysisches, „positives Weltprinzip“[3], das in Natur und Geschichte am Werk sei und aus allgemeinen, für sich zu diskutierenden Gesetzen wie dem „Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität“[4] bestehe. Engels identifiziert sein Dialektik-Verständnis mit dem marxschen und erläutert die marxsche Dialektik entsprechend in seinen Veröffentlichungen, zuerst in seiner Rezension zu Marx‘ Zur Kritik der Politischen Ökonomie, wo er sie als „allein richtige Form der Gedankenentwicklung“[5] charakterisiert. Weil Marx sich öffentlich kaum zu seinem Dialektik-Verständnis geäußert hat, wurde es zunächst auf der Grundlage von Engels‘ Erläuterungen rezipiert und schließlich zur Zeit Stalins in der UdSSR als dialektischer Materialismus zusammengefasst.[6] Diese stalinistische Staatsphilosophie ist zwar nicht einfach identisch mit der engelsschen Dialektik, konnte sich aber dennoch auf diese berufen.[7] Projektionen der Dialektik auf Natur und Geschichte, wie Engels sie vollzieht, finden sich bei Marx nur selten, der seine Darstellungsmethode deutlich von solcher Natur- und Geschichtsdialektik abgrenzt. Beispielsweise behauptet Engels in der genannten Rezension, dass die logische Entwicklung der ökonomischen Kategorien „nichts andres als die historische“[8] sei, was Marx im – allerdings unveröffentlichten – Methodenkapitel als „untubar und falsch“[9] bezeichnet. Die Dialektik im Kapital lässt sich nicht als ‚allein richtige‘, überhistorische Methode verstehen, vielmehr wird sie erst nötig aufgrund von historisch spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie hauptsächlich mit der kapitalistischen Epoche verbunden sind. Die Dialektik ist eine sehr besondere Methode, die sich mit der Wirklichkeit von Abstraktionen beschäftigt, und nicht die ‚objektiv richtige materialistische Methode‘. Ob sie nötig ist, kann sich immer nur im Einzelnen aufgrund spezifischer widersprüchlicher Verhältnisse ergeben. Sie ist beispielsweise nötig, um den Wert darzustellen. Von solchen Verhältnissen abgesehen ist die Dialektik aber „Methode auf Widerruf“[10], die mit dem Ende dieser Verhältnisse überflüssig werden wird. Obwohl gegen diesen „Engelsismus“ oft auf Georg Lukács als seinem ersten Kritiker verwiesen wird, führt das nicht so weit, denn Lukács kritisiert zwar Engels‘ Projektion der Dialektik auf die Natur,[11] hält aber weiterhin an der Dialektik der Geschichte fest: Das Proletariat sei das Subjekt-Objekt der Geschichte, die ihre dialektische Aufhebung im Kommunismus finde. 

Emanuel Kapfinger


[1] MEW 42, S. 15-45.

[2] Karl Marx: »Zur Kritik der Politischen Ökonomie«, 1859, in: MEW 13, S. 3–160, hier S. 7.

[3] Alfred Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, 1962, 2. Aufl., Frankfurt a. M., Köln 1974, S. 53.

[4] Friedrich Engels: »Dialektik«, in: MEW 20, S. 348–353, hier S. 348.

[5] Friedrich Engels: »Karl Marx, „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“«, 1859, in: MEW 13, S. 468–477, hier S. 474.

[6] Vgl. Wolfram Pfreundschuh: Kulturkritisches Lexikon, s. v. Dialektischer Materialismus, kulturkritik.net/begriffe/index.php?lex=dialektischermaterialismus [01.04.2021].

[7] Vgl. Hermann Kocyba: Widerspruch und Theoriestruktur. Zur Darstellungsmethode im Marxschen „Kapital“, Frankfurt a. M. 1979, S. 40.

[8] Engels: »Karl Marx, „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“«, S. 475.

[9] MEW 42, S. 41.

[10] Reichelt: Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs, S. 91.

[11] Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein, Berlin 1923, S. 17 Fn.

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