Input vom Offenen Treffen: „Dialektik bis 1968“

Ich möchte dieses Offene Treffen (Anmerkung: am 6. April 2021) mit zwei Beobachtungen einleiten, die die Bedeutung der Dialektik für kritische Theorien bis ungefähr um 1968 herum betreffen.

Zum einen habe ich gestern recht zufällig einen kleinen Sammelband von Marcuse aus meinem Bücherregal gezogen, Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft. Darin befindet sich ein Text namens „Zum Begriff der Negation in der Dialektik“. Das fand ich ziemlich stark, weil mir daran eine Sache klar wurde: Vor nicht ganz so langer Zeit war es für all diese kritischen Theoretikerinnen völlig selbstverständlich, über Dialektik nachzudenken, nicht nur Texte über Dialektik zu schreiben und Hegel zu lesen, sondern vor allem ihre eigene gegenständliche Forschung über Ökonomie, Ideologie, Familie uvm. als Arbeit in dialektischer Methode zu verstehen. Das galt für alle Richtungen, für Leute wie Engels und Lenin ebenso wie für Luxemburg und Korsch oder Horkheimer, Althusser und Marcuse. Im Prinzip ungefähr seit den 70er Jahren ist das völlig anders. In den 70er und 80er Jahren wurde zwar an den Universitäten noch recht eifrig über Dialektik geforscht, aber eigentlich hat sich das in eine abgehobene Methodendiskussion verselbständigt. Und heute stehen wir vor dem Problem, dass wir keine richtige Vorstellung davon haben, was man eigentlich macht, wenn man dialektisch denkt. Dialektik gilt als schwierig oder als bloßer Hokuspokus. Die Phrase „das muss man dialektisch denken“ wird in der Regel nur als Überheblichkeit von gebildeten Männern wahrgenommen, die damit verschleiern, dass sie die Sache nicht verstehen, über die sie reden. Ganz davon abgesehen, dass viele Theoretikerinnen (zum Beispiel Heinrich) gegen Dialektik als unnötig und philosophisch verquast agitieren. Bis zur Revolution von 1968 war das noch völlig anders. Marcuse fängt in seinem Text „Zum Begriff der Negation in der Dialektik“ nicht an mit der Frage, ob es sinnvoll oder hilfreich ist, dialektisch zu denken, ebensowenig damit, was Dialektik eigentlich ist. Vielmehr geht er direkt in medias res und reflektiert Dialektik. Ganz genau so ist es, wenn man andere Texte aus dieser Zeit aufschlägt: Dialektik ist eben die Methode, die eben das Selbstverständnis der kritischen Theoretikerinnen begründet hatte, durch die sie sich als Kollektiv verbunden fühlten und wussten und die ihnen die Gewissheit einer gemeinsamen Theorie-Diskussion gab, die einen Unterschied für die revolutionäre Praxis macht.

Noch eine zweite Beobachtung. Dieses Mal habe ich ein Buch mit Brechts theoretischen Schriften aufgeschlagen – es ist allerdings schon eine Weile her. Hier sprang mir ein Text namens Betreffend: Eine Organisation der Dialektiker ins Auge. Es ist tatsächlich ein ganz kleiner Text. Doch an ihm wurde mir ganz deutlich, dass „damals“ – also eben bis etwa 1968 – die Dialektik immer ganz stark verbunden mit der Organisation der Theorie gedacht wurde. Die Dialektikerinnen müssen sich untereinander organisieren, um ordentlich theoretisch arbeiten zu können. Und sie müssen sich mit der Praxis organisieren, damit ihre Theoriearbeit letztlich Sinn hat. So schreibt Lukács im Vorwort von Geschichte und Klassenbewusstsein, „dass alle guten Marxisten – nach einem Worte von Lenin – ‚eine Art Gesellschaft materialistischer Freunde der Hegelschen Dialektik bilden sollten.“ Oder das Institut für Sozialforschung, unter dessen Dach ein enormer arbeitsteiliger Forschungszusammenhang installiert wurde, der von Horkheimer explizit dialektisch reflektiert wurde und der in einem großen Dialektik-Buch zusammengefasst werden sollte (auch wenn das schließlich nur in einer erheblich abgespeckten Variante als „Dialektik der Aufklärung“ realisiert wurde). Brecht schreibt in dem genannten Text, dass die Anwendung der Dialektik zu revolutionärer Organisation und Aktion führt – und nennt als Beispiel die Auswirkung einer dialektisch umgestalteten bürgerlichen Biologie auf die Medizin. Und er schließt mit dem Satz: „Die Organisation der Dialektiker erfolgt außerhalb der kommunistischen Arbeiterpartei und findet ihren Abschluß mit der organisatorischen Vereinigung mit dieser.“

Emanuel Kapfinger

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